Im vergangenen Jahr haben wir uns daran erinnert, dass Martin Luther 1517 mit 95 Thesen zum Ablass an die Öffentlichkeit trat. Bei der Ablasskritik blieb Luther nicht stehen, sondern er beschäftigte sich danach mit allen Sakramenten, die das kirchliche Leben seiner Zeit bestimmten. Er übernahm die Definition des Kirchenvaters Augustin (354-430), wonach ein Element und ein Wort Christi zusammen ein Sakrament bilden. So konnte Luther nur noch die Taufe und das Abendmahl als Sakramente bezeichnen. Mit Einschränkungen (weil es am Element wie Wasser, Brot und Wein fehlt) ließ er auch die Beichte als Sakrament gelten, nicht jedoch die Firmung, die Weihe der Geistlichen, die Ehe und die Krankensalbung.
Besondere Bedeutung kam dem Sakrament des Altars, dem Abendmahl, zu. In der Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche und den übrigen Reformatoren verlagerten sich bis zum Jahr 1529 die Schwerpunkte, unter denen Luther die Thematik behandelte. Jedoch sind einige Grundlinien noch heute für das evangelische Abendmahlsverständnis wichtig:
1. Mit guten Werken kann der Mensch Gott nicht gnädig stimmen, sondern Gott schenkt den Glaubenden das Heil ohne Vorleistung. Deswegen ist die Messe nicht geeignet, Gott etwas darzubringen –etwa eine Wiederholung des Opfers Christi am Kreuz. Vielmehr schenkt Gott im Sakrament Gemeinschaft mit Christus und den anderen Glaubenden. „Wer nun verzagt ist, wen sein sündiges Gewissen schwächt, wen der Tod erschreckt oder wer sonst eine Beschwerung seines Herzens hat, der gehe, will er dessen ledig sein, nur fröhlich zum Sakrament des Altars“, schreibt Luther 1519.
2. Das Vertrauen, mit dem Menschen zum Abendmahl gehen können, ist begründet in Jesu Einsetzungsworten:„Nehmet hin und esset. Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Solches tut zu meinem Gedächtnis. Nehmet hin und trinket alle daraus. Dieser Kelch ist der neue Bund / das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut, sooft ihr's trinket, zu meinem Gedächtnis.“ Von 1520 an versteht Luther diese Worte unmittelbar als Testament Jesu Christi vor seinem Tod.
Er folgert: Die Praxis, dass der Gemeinde nur das Brot, nicht der Wein zu geben sei, ist nicht aufrecht zu erhalten; die seit dem Jahr 1215 geltende Theorie, dass Brot und Wein in Leib und Blut Christi gewandelt würden, hat keine biblische Begründung.
3. Anders als die reformatorischen Theologen, die von der Bewegung des Humanismus geprägt sind und im wörtlichen Verständnis der Einsetzungsworte Menschenfresserei sehen – allen voran Huldrych Zwingli in Zürich – hält Luther daran fest, dass im Abendmahl Leib und Blut Christi gereicht werden, auch wenn Brot und Wein erhalten bleiben. Zwingli und die später so genannten Reformierten vertreten dagegen ein symbolisches Verständnis der Worte, zusammengefasst:„Das bedeutet meinen Leib“.
4. Der Streit über das Abendmahl greift ab 1525 so tief, dass er (zusammen mit zwei anderen Lehrdifferenzen) über Jahrhunderte die Kirchengemeinschaft von „Lutheranern“ und „Reformierten“ verhindert. Für Luther bleibt wesentlich, dass durch Christi Leib und Blut unter Brot und Wein den Glaubenden Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit geschenkt werden (so formuliert er im Kleinen Katechismus). In der reformierten Auffassung wird dagegen das Gedächtnis des Leidens und Sterbens Christi am Kreuz betont. Im Abendmahl erhält die feiernde Gemeinde Brot und Kelch als Zeichen für seinen Leib und sein Blut (so steht es sinngemäß im Heidelberger Katechismus).
Gemäßigte Vertreter beider Auffassungen, vor allem Philipp Melanchthon und Johannes Calvin, versuchten schon im 16. Jahrhundert, die Unterschiede im Abendmahlsverständnis zu überwinden. In den Unionen evangelischer Kirchen ab dem 19. Jahrhundert wurden diese Versuche fortgesetzt. Aber erst in der Leuenberger Konkordie von 1973 wurde erklärt, dass die Lehrdifferenzen zwischen den evangelischen Theologen des 16. Jahrhunderts für die Gegenwart keine kirchentrennende Wirkung mehr haben. Fast alle protestantischen Kirchen haben die Leuenberger Konkordie angenommen und stehen seitdem in voller Kirchengemeinschaft.